Es gibt Tage, an denen könnte ich gar nicht aufhören zu schreiben. Gut, dass es das Internet gibt. Aber es gab auch Tage, an denen ich gar nichts schreiben konnte. Fast nie, weil ich nichts erlebte oder fühlte - das ist immer viel. Zeit, das habe ich gelernt, ist das wohl größte Privileg.
In diesem Moment verbringe ich sie damit, mit einem Glas Primitivo (200 ml, ich will nachher wieder stillen können), dunkler Schokolade und einer Packung Saure Drachenzungen an meinem Schreibtisch. Hozier singt gerade für mich, die alte Standleuchte meiner Großeltern schenkt dem neuen, eigentlich alten Arbeitszimmer warmes Licht aus einer wenig sparsamen Halogen-Lampe. Ich hoffe, sie spendet mir Licht und Wärme noch so lang ich ihre Liebe in mir spüren kann. Ich bin rührselig, emotional und ich werde es nicht verstecken.
Mein Blick bleibt an einer Karte hängen, die es genau einmal gibt. Auf ihr steht: „Blumen, Pralinen und Wein, aber ohne Geschwurbel und Kitsch“. Sie wurde von meinem Team bei Podstars by OMR für mich zum Abschied nach sechs Podcast-Jahren gestaltet und gedruckt. Dazu lag im Paket Das neue Buch vom Leben auf dem Lande. Ich hatte es schon zwei Jahre zuvor gekauft. Einen kleinen Vorgeschmack für das Gefühl raus aufs Land zu ziehen, aber trotz Doppelung war es das beste Geschenk, das ich mir vorstellen könnte. Weil es gezeigt hat, wie gut sie mich kennen, wie sehr sie mich schätzen. Ich bin mir sicher, Sophia hat es ausgewählt. Zwei weitere Bücher suche ich mit meinem Blick über die sorgfältig aufgereihten Bücherstapel bis mir einfällt, dass ich sie mit einigen anderen gesondert aufgestapelt habe. Es sind die, die wegen ihrer persönlichen Bedeutung für mich einen frontalen Platz bekommen werden. Proud to be Sensibelchen und We are proud to be Sensibelchen zählen dazu. Sie markieren meine beginnende Legitimation als Autorin.
Erfolg fühlte sich nicht so an wie erwartet. Die Gründung von Familie aber besser als ich es mir je hätte ausmalen können. Also schrieb ich eine Weile einfach nicht, obwohl ich sehr viel (er)lebte. Beruflich würde ich die letzten vier Jahre als schwierig bezeichnen. „Sag mal, merkst du gar nicht mehr, wie unglaublich das ist, dass du den nächsten Buchvertrag angehst?“, wurde ich von einer Freundin gefragt. „Nein.“, antwortete ich irritiert und begriff nicht, was sie meinte. „Bist du wirklich nicht aufgeregt? Ist das normal für dich zu Interviews zu gehen?“, fragte mich mein Mann. „Ja, schon. Es ist Teil meiner Arbeit.“, sagte ich und verstand so langsam, was sie mir sagen wollten. Heute weiß ich, dass mein Warum verloren gegangen war. Und ich bin an dem Punkt zu sagen, dass das okay ist. Aber nur, weil ich es wiedergefunden habe.
Ich beendete mein erfolgreichstes Projekt. Ohne zu wissen, was folgt, aber in dem guten Gewissen, dass Haltung Teil meines Erfolgs ist.
Ich begann Tagebuch über unseren Umzug raus aufs Land zu führen.
Ich las Ann Patchett (es zählt zu den besonderen Büchern für das Auslagenregal) und fühlte meine Schreibe, ihr Ziel, ihre Wirkung und mich als Autorin wieder.
Ich besuchte das gute Leben, das ich in der Planung eines noch passenderen verließ.
Ich schlug Nägel in die Wände, um von mir aquarellierte Blumen ihren würdigen Platz in unserem Haus zu geben.
Ich fahre über den Deich, vorbei am See und vereinzelten Schafen, zu meinem neuen (Teilzeit-)Arbeitgeber.
Noch stehe ich dort auf dem Besucherparkplatz, bald nicht mehr. Bei Salat und Möhrensuppe sitzen wir im Schatten der berankten Terrasse, so warm sind diese Spätsommertage noch. Wir sprechen über unsere Kinder und die Arbeit. Einen Schluck Brause, dann werden wir in unser zukünftiges Bürogebäude, dessen Umbau noch in diesem Jahr beginnt, gehen. Vom Werk durchs Dorf vorbei an Backsteinbauten und Vierständehäusern, einem Spielplatz. Wendland.
Das Ziel ist eine Kneipe mit Pension, genau diese Pension wird das Zuhause der Marketingabteilung, der ich bald angehöre. Es fühlt sich surreal an, mit meinem baldigen Chef die Inhalte des Jobs von einem Pensionsbett zur offenen Badezimmertür zu besprechen. Ich stehe auf der Terrasse, sehe in die Elbmarsch. Sehe einen Vogel, den ich nicht benennen kann. Auf dem Weg zurück durchs Dorf kommen wir beim Bauern vorbei. Kleine Milchkälbchen stehen in der Kälberbox und muhen. Ich habe schon kurz Sorge, dass mein Milchspendereflex gleich einsetzt und gehe trotzdem zu ihnen. Lasse sie an meiner Hand riechen und schlecken und berühre die wenigen Wochen alten Kälber. „Milchindustrie ist wirklich scheiße.“, höre ich mich sagen, während ich so viel Liebe wie möglich durch den Zaun reiche. Und dass sie sonst länger das Glück hätten fühlen dürfen, das mir im letzten Jahr der Elternzeit zuteil wurde. Auch dass mein Chef sich sorgt, dass der Bauer kommen könnte. Ich gehe, bevor ich zu viel fühle und wir wissen, dass wir die gleiche Meinung teilen.
Ein Gang durch das Werk, in dem bio-dynamische Lebensmittel verarbeitet werden, eine weitere Brause. „Arbeitszeit, wie bekommen wir das hin?“, werde ich gefragt und lege - nicht nur im voll gemalten Notizbuch offen, dass es um eine kreative Glucke zeitlich ungewöhnlich bestellt sein kann.
Die Blumen habe ich gemalt. Vor einigen Tagen schmückten sie meine Abende, jetzt dieses Buch. Eigentlich sind es Abbildungen der Gartenblumen einer meiner Omas, die sie mir zu ihrem ersten Besuch bei uns im Haus vor zwei Wochen mitbrachte. Dass ich sie male und dass das auch noch gut aussieht, würde ich als etwas Talent und viel Autodidaktismus benennen. Neurodivergent zu sein, das hat auch Vorteile, wie ich heute weiß. „Du glaubst auch, dir alles einfach mal eben aneignen zu können.“ klingt spöttisch in meinen Ohren nach. Ein Satz, den eine Freundin vor vielen Jahren sagte. Eine, die mich vorzugsweise klein und in ihrem Schatten sah. „Nicht alles.“, würde ich heute sagen, „Aber doch so einiges.“
Mein Blick in die Vergangenheit ist an vielen Stellen schmerzhaft. Es ist nicht leicht, ADHS und Autismus in sich zu vereinen. Da gab es oft eine traurige, irritierte und einsame Maria. Und eine, die für andere unglaublich anstrengend gewesen sein muss. „Es tut mir leid.“, möchte ich zu jeder und jedem sagen, der/dem ich unbequem war. „Es hätte viel gebracht, hätte ich mich uns beiden erklären können.“ Aber ich hatte sehr lang keine Worte für dieses Störungsbild, nur das Gefühl, das etwas nicht mit mir stimmt und ich anders, falsch bin. Seit diesem Jahr weiß ich es besser. Saß im neuen, alten Arbeitszimmer als die finale Diagnostik mit mir besprochen wurde und das Nachmittagslicht auf den Schreibtisch fiel.
Das erste Mal angekommen fühlte ich mich in Magdeburg. Wie oft stand ich an der Elbe, Wind in den Ohren, den Blick auf das dichte Grün des Rotehornparks und die alte, industrielle Hubbrücke gerichtet: „Von soweit her bis hierhin.“ steht dort in rot leuchtenden Lettern. Innehalten, ankommen lassen. Den Satz und das Gefühl dahinter. Diese Gänsehaut wird für immer bleiben. Ich habe es getestet als wir zum ersten Besuch angetreten sind. Nach drei Tagen mit FreundInnen und Familie unmittelbar an unserem alten Zuhause schaffte mein Gehirn den Abgleich zwischen Ist und Soll nicht mehr. Ich zog mich mich dem Hund raus und ging zu meiner früher üblichen Hunderunde los. An der Elbe atme ich ein und aus und ein und aus. Weil es eben das einzige ist, das übrig bleibt, um durch die Traurigkeit zu kommen, die ja auch nur versucht zu helfen, die Brücke zu schlagen zwischen dem was nicht mehr ist, aber einmal war. Als die Schwere in der Brust kleiner wurde, ging ich die Strecke an der Hubbrücke weiter. Ich wusste, die Gänsehaut würde gleich doppelt zurückkommen, von den Haarspitzen bis zu den Zehen reichen, wenn ich auf der Rückseite der Hubbrücke „Von hieraus noch viel weiter.“ lesen würde. Danke, Magdeburg, für die schönste Zwischenetappe in meinem Leben. Für zwei Kinder, zwei Diagnosen. Für die Zeit, mich zu erkunden und zu finden, was mich glücklich macht. Für Menschen, so tolle Menschen. Und das Gefühl, das Weiterziehen ein mutiger Schritt in die richtige Richtung ist. Ich bin dir für diese kostbare Zeit für immer dankbar.
In diesem besonderen Sommer, in dem wir raus aufs Land zogen, schenke mir meine Freundin Ulrike Ann Patchetts Diese kostbaren Tage. Als hätte sie gewusst, wie wenig Zeit ich zum Lesen, vor allem zum langwierigen finden würde. Also snackte ich Kurzgeschichten, die nachklangen. Und mit jeder mehr eine Erinnerung daran, was ich selbst am Schreiben so liebte. Wie ich mich einst - und das bemerkte ich jetzt - immer noch als Autorin sah. Eine gute Erkenntnis, ein gutes Buch für den Start meines Tagebuchs über unseren Umzug raus aufs Land und damit eine Entscheidung und ein Bekenntnis weiter zu einem Leben, wie wir es leben wollen. Dazu zählt manchmal (immer?) auch Abschied nehmen. Von Magdeburg und von Vollkommen Unperfekt. Beides hat für eine bestimmte Zeit genau so in mein Leben gepasst, aber - und das haben mich ADHS und Autismus mein Leben lang gelehrt - ich habe ein ziemlich gutes Gespür für das, was nicht mehr passt. Diese Intuition für meine Belange habe ich oft ignoriert, um nicht unbequem zu sein. Zu unbeständig, zu wandelbar, zu viel, zu laut, zu lebendig, zu glücklich, zu unkonventionell. Es zieht im Bauch, wenn ich das hier schwarz auf weiß lese. Ich lösche es trotzdem nicht. Ich glaube, das ist Teil meines Prozesses, Haltung zu finden.
Der Haltung, die ich in kleinen Momenten mit mir selbst fand als wir in diesem Sommer raus aufs Land gezogen sind. Die mir mein Gefühl für mich und meine Kreativität wieder gab. Die mich mit jeder Faser meines Körpers aufgeladen über den Deich zurück nach Hause - mit dem sinnstiftenden Job und meiner kreativen Selbstständigkeit im Gepäck - fahren lässt. Mit dem Gefühl, mich nicht entscheiden zu müssen. Es ist das gute Gefühl, richtig zu sein. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Mit den richtigen Entscheidungen. Und dem Gefühl, dass ich vorher nicht haben konnte, aber in diesem Moment so stark empfinde: Dass dieses Jahr wegweisend sein wird. Ich schrieb es doch sogar schon vor einiger Zeit in ein Kirchenbuch: “Vielen Dank für dieses gesegnete Leben und diese kostbaren Tage.” Was bin ich stolz, wieder hier zu sein. Wie schön, dass ihr davon lest.
So ein unglaublich schöner Newsletter-Text, des direkt ins Herz geht ♥️
Ich freue mich sehr, wieder von dir lesen zu dürfen :)!