25.11.2023: Heute Abend bin ich bei L zum Geburtstag in W eingeladen. Gestern sah ich sie in einem Artikel der EJZ, weil sie seit August eine neue Position für die Stadt bekleidet. Wir hatten beim Drachenfest schon einmal kurz darüber gesprochen und auch vor der Kita als sie nach meine Nummer fragte. Auf diese kam vor einigen Tagen eine zwanglose, ganz unverbindliche, aber herzliche Einladung. L ist eine echte Wendländerin. Ihre Eltern kamen 68/69 und blieben. L wuchs auf einem Hof mit Vierständehaus und Schweinestall auf, zog später nach Berlin und vor einigen Jahren mit ihrer Familie zurück.
Bis zur Party denke ich noch mehrmals, dass ich nicht fahren werde, dann, dass ich fahren werde. Ich weiß, es gibt kein Richtig oder Falsch. Mich in eine Masse mir unbekannter Menschen zu begeben, ist nur eine Entscheidung. Aber eben eine, die ich genau abwäge, weil ich weiß, wie schwer mit soziale Interaktion in der Gruppe fällt. Ich entscheide mich dennoch dafür. Ich will mutig sein. Außerdem schreibe ich dieses Buch. Und so nett meine Gedanken auch sind: Nur in meinem Kopf zu bleiben tut weder mir, noch diesem Buch gut. Ich stille R, verpacke das kleines Geschenk und fahre gegen halb acht in ein Rundlinsgdorf zehn Minuten, wegen des Regens fünfzehn Minuten von unserer Kleinstadt entfernt. Unterwegs sehe ich zwei Hasen.
Im Rundling stelle ich das Wohnmobil ab und lese die Nachricht eines befreundeten Paares, dass heute auch kommen wollte, aber jetzt leider nicht kommen kann. Mist. Ich schließe das Auto ab und gehe zum Vierständehaus. Keine Klingel. Also drücke ich die Klinke herunter und trete ein. Einige Kinder gucken aus einem hell erleuchteten Zimmer. Ich erkenne R, das Kind von L. „Mama, die nächsten Gäste sind da!“, ruft sie. L kommt heraus, begrüßt mich. Sie zeigt mir das charmante, uralte Haus. Ich bin froh, dass unsere Kernsanierung bereits abgehakt ist.
Ein Glas Rotwein wartet am Tisch auf mich. Die ersten Gäste sind da, kennen sich, erzählen neben der Bar. Ich setze mich an den Tisch, trinke meinen Wein und versuche wirklich nicht zu maskieren. Ich kann mich super mit mir selbst amüsieren, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es für andere befremdlich ist, wenn ich für mich bleibe. Ls Partner setzt sich zu mir, wir quatschen über die Kinder. Er geht und ich merke, das mir der Kiefer vom Lächeln schmerzt. Warum so angestrengt, Maria? L setzt sich zu mir und ich frage sie nach ihrer neuen Stelle bei der Stadt. Es kann so einfach sein. Weitere Gäste kommen in die Küche, es wir über eine Promille-App geredet. Ich finde das spannend und merke an, dass die auf dem Land wahrscheinlich sehr viel mehr installiert wird als in der Stadt. Auf einer Zeiten Runde durch das Haus, überlege ich, ob es nicht doch klüger gewesen wäre Zuhause zu zu bleiben und mein Stirnband zu stricken.
Im frisch renovierten Zimmer eines von Ls Kindern erzählt diese einem Paar grade von den Umbaumaßnahmen. Die Wände sind noch etwas feucht vom neuen Lehmputz. Ich stelle mich dazu, wir komme schnell ins Thema, da auch wir ja gerade ein Haus umgebaut haben. Mit der Frau mit den langen, braunen Haaren, dem geraden Pony und schönen Gesicht verbleibe ich im Gespräch als die anderen beiden weitergehen. Vom Haus kommen wir zu unseren Kindern, Elternschaft, Mutterschaft. Wir schürfen schnell tiefer, reden ehrlich und ungeschönt über Babys, die mehr fordern als wir zu geben geglaubt haben. Ich ärgere mich, nicht nach ihrem Namen zu fragen. Auch sie kommt aus dem Wendland, studierte in Berlin und zog dann mit ihrer Familie zurück auf einen eigenen Hof.
Ich schaue noch einmal in der jetzt gut gefüllten Küche vorbei, treffe auf einen Papa aus der Kita. Wir quatschen über die Kinder und wie er als Spanier in das Wendland kam: Mit seiner deutschen Frau zog er aus Berlin nach Barcelona, wo es schrecklich schief lief. Sie schlug das Wendland, ihren Heimatort, vor und er stellte es sich grausig vor, in Deutschland auf dem Land zu leben. „Jetzt ist es unser Zuhause, hier bleiben wir.“, sagt er heute. Ich sehe mich im Raum um, fühle mich an frühere Partys in Hamburg in betont abgerockten alt-glamourösen Altbau-WGs erinnert. Das Publikum einheitlich. Ich dachte, das hätte ich hinter mir gelassen.
„Es ist irgendwie witzig“, sage ich dann zu A, „dass egal wo ich im Wendland hingehe, ich immer jemandem sehe, den ich kenne.“ Er nickt, bestätigt das. Die Küchentür geht auf und eine Erzieherin aus der Kita unserer Kinder kommt herein. Wir müssen lachen. Ich nehme mein Handy aus der Tasche, es ist 21:30 Uhr. Ein guter Moment zum Gehen. Im Rundling reihen sich die Autos dicht an dicht.
26.11.2023: Ich habe einen Kater ohne wirklich getrunken zu haben. Ich glaube, er kommt von zu vielen Menschen. Gestern Abend war ich noch stolz allein zum Geburtstag gefahren und knapp zwei Stunden mit mir größtenteils Unbekannten verbracht zu haben. Beim Einschlafen schon war ich mir da nicht mehr so sicher als ich nicht zur Ruhe und in den Schlaf kam. „Hey, so viele große Unbekannte (Location, Menschen, Fahrt) sind mir nichts. Lass uns lieber mal auf einen Tee treffen!“, wäre ja auch eine gute Antwort auf die Einladung gewesen. Den war das wirklich Mut, mich in eine Situation zu bringen, von der ich weiß, dass sie mir nicht gut tut? Oder wollte ich nicht viel mehr beweisen, dass ich dazugehören kann? Und natürlich kann ich das, aber es verlangt mir mehr ab als ich geben möchte. Ich versuche, nicht mehr die Situationen nach möglichen Verfehlungen meinerseits zu sezieren, und die Erfahrung abzuschütteln. Sie als Lektion im bei sich bleiben zu belassen.
Bei uns scheinen heute alle etwas durch zu sein. Wir schmücken weihnachtlich zu Weihnachtsmusik und draußen fällt der erste Schnee, aber in der Stimmung fehlt es an Idylle. Das große Kind sitzt im Fensterbrett und schmachtet die weißen Flocken an. Ich bin aber gerade wütend auf S und vergesse ein Foto zu machen. Muss mich damit zufrieden haben, dass das Bild nur in meinem Kopf bleibt. Streit zwischen S und mir, Streit mit E. Wir lüften uns am Nachmittag auf der Suche nach dem ersten Schnee. Eine handgroße Schneekugel können wir einsammeln und endlich wieder laut Lachen.
29.11.2023: Es hat weiter geschneit, die Stadt ist geweißt. Bei anhaltenden Temperaturen plus/ minus 3 Grad bleibt genau die richtige Menge Schnee liegen: Schnee auf Dächern, Schnee auf grünen und bunten Blättern, weil der Herbst gerade so endet, aber nicht auf den Straßen.
Nachdem ich die Kinder in der Kita abgeben habe, gehe ich zum Bäcker, bestelle mir einen Lachs-Bagel und Tee, setze mich an das große Fenster. Ich bin fast allein und sehr zufrieden mit der Aussicht, die Einkaufsliste zu schreiben und weiter Lorenz zu lesen. Danach gehe ich zum Markt, grüße L und bezahle 19,40 Euro. Im Buchladen mache ich halt, um mir meine Eintrittskarte für eine vorweihnachtliche Büchervorstellung am heutigen Abend zu kaufen. Dann muss ich mich doch ganz schön beeilen. Nach der Drogerie und dem Abstecher im Supermarkt, lade ich die Einkäufe im Hausflur ab und fahre mit dem Rad zur Kita. Schnee umweht mich. Ich mag es sehr, wenn ich die Tage in meinem Tempo angehen kann.
30.11.2023: Es ist 09:18 Uhr als ich auf den Wecker schaue. Ich nehme mein Buch und lese die letzten Seiten von Lorenz. Gestern Abend habe ich es nicht mehr ganz geschafft, es auszulesen, weil R neben mir unruhig vom Leselicht wurde. S kommt herein und bringt mir Frühstück.
Die Veranstaltung gestern war toll. Ich habe mich bestens amüsiert und unterhalten gefühlt, habe gelesen, ein Buch für E gekauft. Einen Tee getrunken. Ich kannte niemanden außer der Gastgeberin und ihrem Mann aka die Inhaberin des Buchladens, der diese Veranstaltung organisierte, und das bereitete mir keine Sorgen. Anders als bei der Party am Samstag musste ich nicht mit Unbekannten interagieren - ich konnte. Wenn ich denn wollte. Aber ich konnte auch genau so gut in den Pausen in meinem Buch lesen, ohne dass das in diesem Moment für jemanden befremdlich gewesen wäre. Im Kerzenlicht der geschmückten Veranstaltungsscheune mit dem Feuer im Kamin fiel es mir leicht, ich selbst zu sein. Keine Masken aufzusetzen, die ich für andere trage muss, damit sie sich nicht irritiert fühlen könnten, dass ich einfach gar nicht so viel soziale Kontakte brauche oder Schwierigkeiten im Umgang mit anderen habe. Bücher geben mir Halt, halten mich fest bei mir.
Jetzt stehe ich auf und gehe hinunter. R wird gerade von S aus der Kita gebracht und hat Hunger. Ich stille, wir essen, ich lege sie schlafen. Am Nachmittag werden GMFL kommen. Wir zeigen das Haus, essen gekauften Kuchen und lassen die Kinder spielen während wir quatschen und nicken und lachen. Als sie weg sind, denke ich noch einmal, dass es doch eigentlich gar nicht so schwer mit Menschen ist. Sind die erst einmal da, ist es meistens schön und die Aufregung davor vergessen. Vielleicht muss ich mich nur daran halten, die Menschen und die Veranstaltungen auszuwählen, die mir gut tun. Und akzeptieren, dass mein Gehirn danach trotzdem etwas Zeit braucht, um alles wieder zu ordnen. Meistens leistet mir ein Buch dabei Gesellschaft. Mein Strickzeug, eine Leinwand. Ein Tagebuch über das Leben auf dem Land.