04.11.2021: Ich laufe, weil ich es brauche, nicht, weil ich wirklich will. Meine Laune ist seit Tagen mäßig bis schlecht, aber mit lichten Momenten. Ich bringe Licht ins Dickicht. Aber Entscheidungen treffen, heißt eben auch immer Abschied nehmen. Draußen regnet es den ganzen Tag und die Laufsachen, die Schuhe, die ziehe ich langsam und ruhig an. Keine Euphorie, die mich treibt. Ich leine den Hund an und gehe über den Flur zum Fahrstuhl, fahre fünf Etagen nach unten. Als ich die Haustür öffne, höre ich den Regen rauschen.
Nach wenigen Metern hört es auf zu regnen. Marley ist so vorfreudig, er joggt schon als ich noch gehe. Bis zur Kreuzung, dann laufe ich los, über die erste Brücke, die zweite und ich merke, dass ich heute viel Luft habe, vieles, dass ich loslassen, dass ich in Energie umsetzen kann. Ich biege nach der Sternbrücke in den Park und baue im Kopf eine Rute. Bis zur Rotehornspitze? Der Himmel über mit wird dunkler, ich laufe über nasses Laub. Beim letzten Lauf war da sicher noch nicht so viel von gefallen. Während es nass von den Bäumen tropft, entscheide ich mich für die Zwischenbiegung. Man muss es ja auch nicht gleich übertreiben.
Ein Rascheln glaube ich gehört zu haben. Gesehen habe ich den Hund, wie er zielgerichtet ins Laub schnappt. Als ich sehe, dass er etwas Lebendes im Maul hat, schreie ich durchdringend “Nein”. Er will noch einmal nach dem schnappen, was er gerade schon hatte, aber ich rufe ihn ab, an meine Seite. Zaghaft gehe ich mit ihm in das dichte Laub auf der Wiese, um zu gucken, was der Hund im Maul hatte. Ich erschrecke, als ich einen kleinen schwarz-braun-blauen Vogel auf dem Laub sitzen sehe. Er auch. Der Hund schiebt sich vor, aber ich stelle mich vor ihn. Jetzt weiß ich, dass ich einen Jäger an meiner Seite habe.
Der Vogel hüpft zaghaft weg, aber fliegt nicht. Ich bleibe stehen, sehe mich nach den Optionen um als würden sie mir im matschigen braunen Laub, in den grauen Pfützen, im schon schwarzen Dickicht aufgezeigt werden. Den Hund leine ich an einen Grenzstein, um dem Vogel nachgehen zu können. Er rettet sich in das Gezäune um einen jungen Baum. Er wägt sich dort sicher, ich ihn auch. Zumindest so lang, dass ich recherchieren kann, was zu tun ist.
Mein Herz rast so schnell wie meine Hand über das nasse Display meines Smartphones. Es hat wieder zu regnen begonnen und ich versuche es mit Schlagworten wie “verletzter Vogel Magdeburg” oder “Tierrettung Magdeburg”, aber das führt mich nur auf Anfrageseiten der FDP und ins Nichts. Ich suche fahrig die Nummer unseres Tierarztes aus meinem Telefonbuch. Sicherlich bin ich nicht die erste, die dort Rat zu verletzten Vögeln sucht.
“Wir können den Vogel leider nicht aufnehmen, aber sie können ihn zum Zoo oder zum Tierheim bringen.”, sagt mir die Stimme am Telefon. Also rufe ich den Zoo an, aber der hat schon zu. Ich probiere es im städtischen Tierheim und bekomme die Info, die ich hören will: “Sie können den Vogel gern bis 18 Uhr herbringen. Haben Sie einen Schal oder etwas anderes? Damit können Sie den Vogel einfangen und behutsam herbringen.”
Scheiße, ich habe noch nie einen Vogel eingefangen. Ich sehe zum Hund. Und ich frage mich, ob er den Vogel gefunden oder ihn verletzt hat. Es wird dunkler und mein Herz rauscht wie der Regen. Ich gehe um den Baum, der Vogel hüpft vor weg. Durch ein Loch entschlüpft er und läuft zum nächsten Baum. Ich knie mich hin, ziehe meine Regenjacke, dann meine Fleecejacke aus. Die Regenjacke werfe ich mir wieder über, mir ist kalt. Mit der Fleecejacke nähere ich mich dem Baum und der Vogel schlägt Lärm, was eigentlich völlig bescheuert ist, denke ich.
Aber es wirkt, ich halte Abstand, weiß nicht, wie ich ihn durch den Maschenzaun greifen soll, versuche wieder um den Baum zu gehen, um ihn heraus zu locken - und das klappt. Aber statt auf der Wiese sitzen zu bleiben, nimmt er in seiner Panik alle Kraft zusammen und rennt in großen Sprüngen auf das Gebüsch zu. Ich werfe die Jacke, einmal, zweimal. “Scheiße, jetzt bleib doch stehen.”, sage ich verzweifelt zu dem Vogel. Er bleibt stehen, ich werfe die Jacke. Daneben. Ich kann die Sekunden langsam vorüber gehen sehen als ich versuche, die Jacke aufzuheben und genau weiß, was jetzt passiert. Ein Satz, der Vogel ist im Busch.
“Nein, nein, nein.” Hinter mir jault der angebundene Hund. Vor mir lärmt der Vogel noch einmal. Es ist dunkel, nur noch ein Schleier Grau zieht sich durch den Himmel. Ich versuche den Ehemann anzurufen, nicht erreichbar, dann eine Freundin.
“Bist du schon Zuhause? Hast du schon mal einen verletzten Vogel gefangen?”
“Äh, nein. Wieso? Was hast du vor?”
“Marley. Marley hat, ich glaube, er hat einen verletzten Vogel gefunden. Und ich will ihn einfangen.”
“Und was soll das bringen? Der ist doch eh tot, wenn er verletzt ist.”
“Aber ich habe schon angerufen, ich kann ihn ins Tierheim bringen.”
“Ja, und dann geben sie ihm den sanften Tod.”
“Immerhin das.”, denke ich und lege auf. Das Rauschen in meinen Ohren wird zu einem Dröhnen. Hat mein Hund dieses Tier verletzt und war ich zu blöd, es dann wenigstens einzufangen und zu versorgen? Oder hat er den verletzten Vogel nur gefunden und ich bin dadurch auf ihn aufmerksam geworden? Ich sehe zu ihm herüber. Er steht angeleint am Grenzstein, sieht aufmerksam zu. Erhalt extra drei Marken am Hals, eine verpflichtende Hundemarke und zwei mit unseren Telefonnummern, damit ihn andere Lebewesen kommen hören. Eigentlich läuft er ihnen nur spielerisch hinterher, ist sowieso zu langsam, wenn es darauf ankommt. Aber.
Ich überlege, was ich noch tun kann, während der Park in Dunkelheit versinkt. Nichts, das ist die ehrlich Antwort. Ich bin durchgefroren, ich sehe kaum noch etwas. Ich kann nur gehen und hoffen, dass der Vogel nicht in die Sicherheit des Todes gelaufen ist. Als ich den Hund hole und an meine Seite nehme, weine ich schluchzend. Wir laufen den gleichen Weg zurück, die schnörkelose Strecke am Ufer entlang, kurze Leine. Ich weine. Jedes Vogelzwitschern klingt wie ein kleiner Schuss, der mich zusammenzucken lässt.
Immer wieder sehe ich den kleinen Vogel vor mir und muss plötzlich an einen anderen weit weg in Bali denken. Er war in unseren Pool gefallen, wir hatten ihn gerettet. Nass, saß er im Grünen beim Pool als wir zum Essen aufbrachen. Als wir wieder kamen, lag er tot im Wasser. Ich fand ihn beim abendlichen Schwimmen und erschrak so sehr über den zerbrechlichen leblosen Körper und meine Schuld. Hätte ich mich dort und hier nicht so blöd angestellt.
Zuhause lege ich die Fleecejacke vor die Tür. Mit dem großen bunten Handtuch trockne ich den Hund ab. Er genießt die Nähe und das Abreiben, versinkt mit der Schnauze im Handtuch. Nach dem Schütteln wollen wir reingehen, er schnüffelt an der Jacke. Ich ziehe ihn sanft beiseite, lasse die Jacke liegen. Morgen früh, wenn es hell ist, werde ich losfahren und wissen, wie man verletzte Vögel aus Gebüschen lockt. Und wie schwarz-braun-blaue Vögel heißen.
05.11.2021: Wir waren nicht laufen, aber wir sind bis zu der Stelle des verletzten Vogels spaziert. Ich habe Vogelfutter dabei, aber keine Jacke und keinen Namen. Bei der Suche nach der Vogelart ist mir bewusst geworden, wie groß die heimische Vogelvielfalt abseits von Amsel, Drossel, Fink und Star ist. Die Jacke habe ich in der Aufregung liegen lassen. Aber ich würde auch meinen Pullover für seine Rettung und als Absolution für diese Schuldgefühle opfern.
Zuerst binde ich den Hund wieder am Grenzstein an, dann laufe ich einmal um die Schonung, in dessen Gebüsch der Vogel gestern gelaufen ist. Nichts. An der Stelle, an der er verschwand, suche ich genauer, aber vergeblich. Ich weiß, ihn zu finden, wäre ein Glücksfall, aber ich will tun, was ich kann. Ich stelle eine Dose mit Körnerallerlei vor den Busch, positioniere mich in einiger Entfernung und warte. Und warte. Eine Frau kommt vorbei und geht auf den Hund zu. Sie streichelt ihn, will ihn fotografieren. “Hallo, das ist mein Hund!”, rufe ich ihr zu. Sie ist erleichtert, keinen Aussätzigen gefunden zu haben.
Die Zeit vergeht und je länger ich still in der Hocke sitze, desto mehr Vögel höre ich um mich herum. Ich stehe leise auf, stöbere mit tauben Beinen durchs Laub. “Wenn ich ihn nicht finde, könnte er sich auch erholt haben und weggeflogen sein.”, denke ich und finde mich dabei selbst kindisch naiv. “Oder er wurde von einem Fuchs gefressen.”, entgegne ich mir selbst. Es liegt nicht mehr in meiner Hand, egal wieviel ich gebe, wie lang ich hier sitze und hoffe und bete. Wieviel Vogelfutter ich aus meinen Taschen hole und ausstreue.
Die Vögel zwitschern weiter. Die Natur um mich herum, ihre Regelmäßigkeit, ihre Ruhe und Schönheit, selbst jetzt im Winter, verzaubert mich. Die Streifschüsse schmerzen nicht mehr so sehr, aber ich frage mich trotzdem, wann ich wieder den Vögeln zuhören kann, ohne am Schorf zu kratzen. Die Natur zu lieben, ist immer dann leicht, wenn sie gerade saftig grün und gebend ist, Vögel zwitschern und Rehe sich putzen. Wenn die Sonne zwischen den Bäumen durchscheint und Gräser blühen, wenn die Wärme flimmert und unerwartete Schönheit uns unverhofft trifft.
Aber jagen und gejagt werden, der Tod, Verluste, sind genau so Teil dieser Natur, die ich, die wir so lieben und schützen. Es hat sich nichts daran oder seit gestern verändert. Nur meine Haltung.
22.11.2021: Ich bin gelaufen. Ich habe Vögel gehört. Ich habe mich gefreut.