Es ist Spätsommer und endlich können der Sommer ‘22 und ich Frieden schließen: Er lässt das Thermometer nicht mehr über 25 Grad klettern, gibt mir regelmäßig Regen und Wind, der die Elbe rauf- und runter zieht. Ich sehe ihn gerade wieder aus dem offenen Fenster blickend, wie er die Blätter der Himbeere sanft bewegt. Seit dem sich dieses Gleichgewicht zwischen mir und dem Sommer eingestellt hat, kann ich diese letzten Sommertage genießen - für jetzt und auch in dem Wissen, dass diese Spätsommerzeit immer Geburtstagszeit für unser zweites Mädchen sein wird.
Ich denke viel an unsere zweite Tochter, meine Emotionen reisen dabei von tiefer Gelassenheit zu herzrasender Sorge. In einem Moment bin ich voller Vorfreude, Selbstvertrauen und Hingabe im Warten auf sie und das Leben zu fünft, in einem anderen frage ich mich, ob das jetzt noch Angst oder doch eine Panikattacke wird: Scheiße, wirklich nochmal Geburt. Und wenn es wieder so lang wie bei der ersten dauert? Und danach? Was wird mit dem Stillen? Wird es dieses mal klappen? Oder wieder nicht? Und - oh man - diese Zeitfenster von zwei bis vier Stunden, die dann wieder unseren Alltag bestimmen. Was ist, wenn wir total überfordert sein werden?
Mein Mann kommt in die Küche, in der ich auf dem Holzstuhl sitze und den Himbeerblättern und der Elbe im untergehenden Abendlicht zusehe. “Ist alles okay?”, fragt er und schaltet das Babyphon ein. Die Herbsttochter, die bald die große Schwester sein wird, ist gerade eingeschlafen. Ich habe bald zwei Kinder, wir haben bald zwei Kinder, denke ich. Ein wuchtiger Gedanke. “Ich weiß nicht, ich würde gern nochmal über die Geburt reden und das Stillen.”, antworte ich. Er setzt sich aufs Sofa und eigentlich weiß ich gar nicht so genau, wo ich anfangen soll. Wir haben erst vor wenigen Tagen über all diese Gedanken und Ängste gesprochen als ich zum errechneten Entbindungstermin einen kleinen (großen) weinenden Zusammenbruch hatte, weil wieder nichts, aber auch gar nichts auf eine baldige Geburt hingedeutet hat.
Und ich war gedanklich wieder dort gewesen, im November 2019 als ich vierzig Stunden in den Wehen gelegen und vor Müdigkeit und Erschöpfung nach zwei wachen Nächten keine Kraft mehr gehabt hatte. Und mit dieser Übermüdung ins Wochenbett gestartet bin und das Stillen nicht geklappt hat. Und das Wochenbett nicht genießen konnte, weil jede Milchmahlzeit eine Katastrophe war und für zwei Monate blieb. Bis ich endlich die Grenze zog und mich für das Muttersein als eine ausgeglichene, Milch abpumpende Mama und gegen eine stillende, aber ständig angespannte Mama entschied. Und doch ist es so, dass ich noch heute wehmütig stillende Frauen ansehe. Und mir die Angst den Atem nimmt, wenn ich an eine mögliche lange Geburt über Termin denke.
Und das weiß er alles als ich es ihm erneut erzähle. Er nickt. Und ich sage, wie viel Druck ich da fühle, eine gute Mutter zu sein. Er sagt, dass er das nicht fühlt. Und ich nicke. “Das ist das Privileg, ein Mann zu sein.”, sage ich. “Dieser Druck gilt nur den Frauen, die gute Mütter sein müssen, weil sie sonst nicht nur körperliche Schäden bei ihren Kindern anrichten würden, sondern auch für jeden psychischen Schaden verantwortlich gemacht werden. Es geht immer darum, all diese Erwartungen zu erfüllen, die an eine gute Mutter gestellt werden. Und ehrlich, ich weiß dass das patriarchaler Schwachsinn ist. Ich halte mich für reflektiert, aber auch in mir sind diese Annahmen so tief eingeprägt, dass ich nicht immer unterscheiden kann, ob das gerade wirklich meine Erwartungen oder die an ein Rollenbild sind.”
Er sagt, das ihm das nicht bewusst war, wieviel von Frauen erwartet wird, wenn sie Mütter werden und was das mit ihnen macht und ich sage, dass auch das ein Privileg ist: nichts zu bemerken und das sagen zu können. “Ich habe da nicht drüber nachgedacht, weil für mich jede deiner Entscheidungen so wie sie war okay war und ich dich unterstützt hätte. Egal welche Geburt, welche Ernährung. Und gleichzeitig sind das Dinge, die nur du entscheiden kannst, weil es deinen Körper betrifft.” Wie recht er damit hat.
Mich beeindruckt das immer wieder, wenn Frauen resolut Grenzen ziehen und für sich selbst mit ihren Entscheidungen Klarheit schaffen. Sei es Jule Lobo mit zwei geplanten Bauchgeburten oder Sina von @mutimbauch, die für das zweite Kind beschlossen hat: Entweder klappt das Stillen oder es gibt Premilch. Und doch regte sich auch in mir der Gedanke, ob das für ihre Kinder wirklich so gut ist. So tief sitzen Rollenbilder und Frauenfeindlichkeit.
“Ich würde auch gern so resolut noch vor der Geburt sagen können, dass wir entweder stillen oder Premilch geben.”, sage ich zu meinem Mann. “Ich dachte, das hätten wir schon?”, fragt er zurück. “Nein, ich kann das so klar nicht sagen. Ich würde gern, aber dann denke ich, dass ich ja doch die ersten zwei Monate, in denen wir zusammen Zuhause sind, abpumpen könnte. Und vielleicht ja doch darüber hinaus, wenn es sich eingespielt hat. Und ich weiß gleichzeitig, wie sehr ich dafür über meine mentalen Grenzen gehen müsste und dass das mit Kleinkind schwer machbar sein würde. Und obwohl ich das sehe, wieviel Kraft es mich letztes mal gekostet hat und wieder kosten würde, denke ich - ich traue mich das gar nicht laut zusagen: Ich mache es mir zu leicht.”
“Das denkst du?”, hakt er nach. “Ja, das denke ich und es ist befreiend, das laut zu sagen. Weil es bescheuert klingt. Ich gebe so unglaublich viel als Mutter und denke immer noch, das es nicht reicht. Und ich weiß, ich bin damit sowas von nicht allein.” Er sieht traurig aus, der Mann, dass ich diese Gedanken habe und mit so vielen mehr teile. Meine Freundin sagte es mir gerade erst in ihrer letzten Nachricht.
“Aber weißt du, das hier ist ein anderes Kind und eine andere Situation. Eine neue Erfahrung. Es muss nicht wie beim letzten Mal sein.”, sagt er und hat wieder recht. “Ich weiß, aber letzten Donnerstag war ich wieder dort und ich wusste gar nicht mehr, wieviel Schmerz und Traurigkeit ich noch in mir trage. Aber ja, das muss sich nicht wiederholen.”, antworte ich vom Küchenstuhl zum Sofa.
“Es wird sich nicht wiederholen!”, sagt ich plötzlich und deutlich. In mir ist gerade ein neuer Gedanke aufgeploppt: Selbst wenn die Ereignisse genau so wie beim letzten mal kommen sollten, kann ich doch anders entscheiden! Ich kann mich für freiwillige Interventionen in einer zu langen Latenzphase entscheiden. Und damit den Verlauf der Geburt beeinflussen, sodass sie zwangsläufig eine andere wird. Und ich kann mich für Leichtigkeit und das Wohlergehen der ganzen Familie im Wochenbett entscheiden, in dem ich das Abpumpen von Milch ausschließe. Und damit den Beginn der neuen Babyzeit mitbestimmen. “Selbst wenn es genau wie beim Herbstkind wird, kann ich doch anders handeln!”, sage ich laut und gucke ihn erleichtert an. “Ja, das kannst du und das können wir.”, antwortet er.
Ich denke an Sinas zentrale Frage, mit der sie für sich ihre ganz eigenen Antworten gefunden hat: Welche Erwartungen bediene ich hier eigentlich? Meine? Oder das gesellschaftliche Bild einer guten Mutter?
Vieles ging mir auch durch den Kopf. Besonders: sich alles abverlangen und noch immer das Gefühl haben, dass es nicht reicht. So falsch. Einer Freundin würde man nicht „erlauben“ , so zu denken, warum dann sich selbst.
Das liegt hinter mir, dennoch war es sehr schön das gelesen zu haben. Danke dafür, liebe Maria. Und ich halte daran fest. Jede Geburt, jedes Kind ist anders, du bist nun auch eine andere, triffst andere Entscheidungen. Es wird gut werden.
Alles Liebe aus Hitzacker
von Lisa
Liebe Maria, danke für deine ehrlichen, sehr privaten und mutigen Worte. Ich bin vor 4 Monaten zur Mutter geworden und habe mir vorher auch viele Sorgen gemacht. Als es soweit war, habe ich einfach funktioniert und bin sehr überrascht darüber. Auch dass mein Körper weitestgehend funktioniert und uns somit vieles leichter macht. Aber ich kann deine Ängste und 'Schuldgefühle' sehr gut nachempfinden. Wie oft geht es einem auch über die Stillthematik hinaus so sich zu fragen, ob man genug ist. Das passiert uns ja schon im Arbeits- und Freundes-/Familienumfeld. Ein Kind setzt da einfach nochmal ne Spur härter oben drauf. Gedanken wie 'es braucht nur deine Liebe' sind komplett richtig, aber man fragt sich, wie kann ich sie zeigen, merkt mein Kind das oder muss ich 'mehr' tun.
Dein Mann hat meiner Meinung nach doch sehr liebevoll die Unterhaltung mit geführt, auch wenn er wie du schilderst, viele Gedanken nicht hatte. Das habe ich auch bereits in der Schwangerschaft bei meinem Mann gemerkt, warum auch der Verlust der ersten Schwangerschaft bei mir viel stärker verwurzelt ist.
Jedenfalls wünsche ich dir und euch alles Glück der Welt <3 und ich bin mir sicher, dadurch, dass wir solche Ängste und Sorgen haben, geben wir sowieso ALLES!
Ganz liebe Grüße, Sarah